Das Nutheschlange Narrativ – Ansichten eines Typen in einem schlecht sitzenden Kängurukostüm.
Nicht von Marc-Uwe Kling
In einem Taxi nach Potsdam
Ich stehe in der Küche und koche Kaffee für den Typen im schlecht sitzenden Kängurukostüm.
„Ist der Kaffee schon fertig?“, fragt das Känguru ungeduldig,
„Noch nicht ganz“, sage ich.
„Vergiss nicht einen schönen Schuss Schnaps in den Kaffee zu tun“, weist mich das Känguru an.
„Sehr originell“, sage ich. „Was willst du dir denn schön saufen?“
„Hast du dich schon mal gefragt“, sagt das Känguru, „wie die Wohnungsbaugesellschaft und die Klein-Politiker es schaffen, eine grüne Oase inmitten Potsdams abzureißen, ohne dass sich Protest in der Bevölkerung erhebt?“
„Ne“, sage ich und öffne eine kleine Schnapsflasche, um sie in den Kaffee zu schütten. „Die Nutheschlange und ihre Architektur müssen doch jedem in Potsdam ein Begriff sein.“
„Ist es auch“, sagt das Känguru und kippt den Schnaps-Kaffee auf ex runter, „wenn die Leute an der Autobahn zwischen Babelsberger Park und Nutheschlange fahren, blicken sie aus dem Fenster und denken sich: Boah, …“
„… was für eine schöne Architektur.“, ergänze ich.
„… was für eine hässliche Architektur!“, sagt das Känguru. „Das sagen sie. Weil gerade der Mensch, der auf der Autobahn fährt, ein plötzliches, unstillbares Verlangen nach Ästhetik verspürt. Dann blickt er aus dem Autofenster und sieht für ein, zwei Sekunden diese verschnörkelte, schiefe, organische Architektur von Baller. Natürlich weiß er weder, wer Baller ist, was organische Architektur oder Biotope City ist. Er sieht nur etwas, was er bisher so nicht gesehen hat. Ein Ding. Und das lehnt er erstmal ab. Weil es fremd ist.“
„Warum sollte der Mensch etwas ablehnen, nur weil es ihm fremd ist“, frage ich.
„Weil“, sagt das Känguru und schüttet sich einen weiteren Schnapskaffee hinter die Binde, „weil das evolutionäre Erbe des Menschen auf Gruppenzusammenhalt angelegt ist. Es ist von erheblichem Vorteil, wenn man in der Gruppe zusammenjagt und lebt; einer für den anderen da ist. Wenn dann einer aus einer anderen Gruppe kommt, der wird sofort als fremd erkannt und kriegt erstmal einen auf die Mütze, weil das stärkt den Zusammenhalt in der eigenen Gruppe. Was fremd ist, löst automatisch eine evolutionär verankerte Abneigung aus.“
„Ok“, sage ich gedehnt, „und Du meinst das gilt auch für Architektur.“
„Klar“, sagt das Känguru und klingt schon etwas beschwipst. „Alles, was der Bauer nicht kennt, findet er erstmal doof. Fremd ist schlecht. Muss bekämpft werden. Am besten gleich abreißen.“
„Aber die Medien“, sage ich, „die sind doch links und hypen moderne Architektur.“
„Ach, die Medien, die Medien“, äfft das Känguru mich nach, „die wollen doch bloß schnelle Klicks. Nur was negativ ist, schafft Aufmerksamkeit und Schlagzeilen. Seit Jahren schreiben sie ungeprüft, was die Wohnungsbaugesellschaft ihnen diktiert: Nutheschlange ist ein Sanierungsfall und kostet nur Geld.“
„Aber ein Abriss und Neubau wäre doch viel teurer. Außerdem, was kümmert den gemeinen Potsdamer das Geld, das eine Wohnungsbaugesellschaft ausgibt.“
„Das ist doch egal“, ruft das Känguru, „da fährt der Potsdamer Bauer vorbei, sieht Architektur, die er nicht kennt, hat in der Zeitung gelesen, dass das alles Geld kostet und denkt sich gleich: Mein Geld! Das ist mein Geld! Und spürt richtig, wie dieses kaputte, hässliche Ding neben der Autobahn an seinem Geldbeutel in seiner Hosentasche saugt …“
„Du übertreibst etwas“, versuche ich das Känguru zu bremsen.
„Und dann“, fährt das Känguru noch etwas lauter fort, „dann hat er natürlich den Wunsch, das zu beseitigen. Was schlecht ist, muss ausgemerzt werden. Abgerissen. Sofort. Weg. Bombe drauf und gut ist.“
„Eine typisch deutsche Reaktion“, pflichte ich dem Känguru bei, um es durch geheuchelten Zuspruch zu beruhigen.
„Dabei ist das so dumm.“, regt sich das Känguru weiter auf, „denn der Abriss ist viel teurer. Und was wird dann gebaut? Hochhäuser! Plattenbauten! Das soll schöner sein? Wie kann man nur grüne Wohnanlagen beseitigen und eine riesige Baustelle vor der Nase haben wollen. Hier sind Schulen, die dann auch vom Baulärm betroffen wären, jahrelang … – ach, am liebsten würde ich so einem Bauern mal so richtig sagen, was Sache ist.“
Es klingelt.
„Hast du ein Taxi bestellt?“, frage ich verblüfft.
„Bauer, der Name“, sagt der Taxifahrer in breitem Berliner Metrolekt. „Bauer-Taxi.“
Das Känguru steigt in das Taxi und nötigt mich auch einzusteigen.
„Na, so Leute wie Ihnen wohnen in diesen komischen Häusern“, sagt der Taxifahrer, „immer wenn ick an der Autobahn vorbeifahre denk ick: Wer hat nur diese hässlichen Häuser da hinjebaut. Und wat dat alles kostet! Ick sach Ihnen: Ick zahl Ihnen, dat Sie hier wohnen können.“
Das Taxi fährt los. Als wir das Parkhaus erreichen, sagt der Fahrer: „Das soll doch alles abgerissen werden. Habe ich gelesen.“
„Hat er gelesen!“, ruft das Känguru, „da hat er aber nur den Anfang der Schlagzeile gelesen, denn überall steht: Der Kopf der Nutheschlange soll abgerissen werden. Kopf! Also zunächst mal nur das Parkhaus. Aber das ist die Art, wie sich politisch informiert wird, die Hälfte der Schlagzeile lesen! Und auf der Grundlage wird dann Politik gemacht. Obwohl Sie ja schon recht haben, der Abriss des Parkhauses ist nur der Auftakt, um hier alles zu beseitigen, jahrelange Baustelle – halten Sie mal, wir steigen hier aus.“
Der Fahrer tritt auf die Bremse. „Watt wollnse? Wir sind doch nich ma 100 Meter jefahrn.“
Das Känguru drückt dem Fahrer einen Zehn-Euro-Schein in die Hand. „Reicht das?“, fragt es den Fahrer.
„Na, Firma dankt“, sagt Herr Bauer und steckt den Schein ein.
Ich rieche die Schnaps-Kaffee-Fahne des Kängurus als es sagt: „Lassen Sie mal die Uhr weiterlaufen. Was ich Ihnen eigentlich erklären wollte, ist folgendes…“ Und es holt zu einem lang anhaltenden Monolog über Biotope City, Wohnungsbaugesellschaft und Klein-Politiker aus.
„Ich kenne das alles schon“, sage ich, klopfe dem Taxifahrer mitleidig auf die Schulter und steige aus dem Taxi.
Dieser Text wurde nicht von oder mit Hilfe einer KI verfasst.




