Klein-Politiker (Das Nutheschlange Narrativ, Teil 2)

Das Nutheschlange Narrativ  – Ansichten eines Typen in einem schlecht sitzenden Kängurukostüm.
Nicht von Marc-Uwe Kling

Ein Typ in einem schlecht sitzendem Kängurukostüm steht vor einem Parkhaus in Potsdam und hält ein Schild hoch.

„Wir sind nur Klein-Politiker“, steht auf dem Schild.

„Sehr witzig“, sage ich leicht gekränkt.

Das Kängurukostüm holt ein neues Schild hervor. Darauf steht: „Wir Klein-Politiker haben die Welt nur beschrieben, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Und darunter in Klammern: „M. Schubert.“

„Haha“, sage ich mit tonlosem Lachen, „ein falsch zugeordnetes Zitat.“

Das Kängurukostüm greift nach einem neuen Schild. „Klein-Politiker, Definition: Ein Klein-Politiker ist jemand, der von großer Politik redet und mit kleiner Politik nichts zu tun haben will.“

„Und was soll das alles?“, frage ich und sehe mit Sorge, dass das Kängurukostüm noch ein Dutzend weiterer Schilder hinter sich liegen hat.

„Ich protestiere gegen den Abriss dieses Parkhauses“, sagt das Kängurukostüm.

„Du demonstrierst gegen den Abriss eines – Parkhauses?“, frage ich ungläubig.

„Der moderne Mensch lebt in Dissonanz“, doziert das Kängurukostüm. „Er lebt in Städten, aber sehnt sich nach der Natur.“

„Und was hat das mit einem Parkhaus zu tun“, frage ich.

„Jetzt lass mich doch einfach mal ausreden“, herrscht mit das Kängurukostüm an.

„Ok.“, sage ich, „ich höre zu.“

„Die Frage ist, ob der alte Stadt-Land-Gegensatz überhaupt existiert. In Wahrheit haben Städte heute eine höhere Artenvielfalt als sie auf dem Land vorhanden ist, weil auf dem Land nur noch eine von Monokulturen durchzogene, verarmte Form von Natur vorhanden ist.“

„Hier“, fährt das Kängurukostüm fort, „setzt das städteplanerische Konzept der Biotope-City, der Stadt als Natur an, das von Helga Fassbinder entwickelt wurde.“

„Fassbinder“, frage ich, „wie der Filmemacher?“

„Das Konzept Biotope City begreift die Stadt als Natur. Es geht darum eine grüne Stadt zu schaffen, der städtische Mensch muss nicht mehr raus in die Natur fahren, er lebt schon in ihr.“

„Tja, eine schöne Träumerei“, sage ich.

„Aber he, das gibt es alles wirklich!“, sagt das Kängurukostüm,  „Sieh dich nur um.“

Das Kängurukostüm und ich stehen in Potsdam, im Humboldtring, in der sogenannten Nutheschlange, einer Reihe von Häusern in ungewöhnlicher Architektur, die sich um einen Teich schlängeln. Am oberen Ende der Nutheschlange befindet sich ein Parkhaus.

„Ich verstehe immer noch nicht ganz“, sage ich und kratze mich am glattrasierten Kinn.

„Das hier“, sagt das Kängurukostüm und deutet auf die parkähnliche Anlage der Nutheschlange, „ist ein Beitrag zum Konzept der Biotope City. Der Architekt Hinrich Baller hat es Anfang des neuen Jahrtausends konzipiert. Häuser in organischer Architektur, mit Verzierungen, schiefen Winkeln, tiefen Fenstern und Räumen, die sich ins Grüne öffnen.“

Wir blicken auf den Teich, an dem die Nutheschlange liegt.

„Sieh nur“, sagt das Kängurukostüm, „ein Teich mit Enten und Fröschen, mit riesigen Schilfpflanzen – eine große Parkanlage. Und dazwischen diese Häuser mit organischen, der Natur nachempfundenen Linien und Formen, in grünem Anstrich. Die Häuser auf der einen Seite stehen auf Pfählen und ragen zum Teil über den Teich hinaus, es gibt Bootstege, die zu den Häusern führen. Das ist Natur in der Stadt.“

„Hörst du die Autobahn“, fragt mich das Kängurukostüm.

„Welche Autobahn?“, frage ich.

„Direkt hinter diesen Häusern liegt die Potsdamer Stadtautobahn nach Berlin. Man hört sie aber nicht, weil die Häuser auf der einen Seite als natürlicher Schallschutz dienen. Die Fenster in den Häusern sind so konzipiert, dass man auf der Seite der Autobahn auch nichts von ihr hört und auf der anderen Seite blickt man auf den Park und den Teich.“

„Dir ist schon bewusst“, frage ich das Kängurukostüm, „dass ich das alles weiß, weil wir beide hier in der Nutheschlange wohnen?“

„Und auf der Spielstraße vor den Häusern parken keine Autos, weil am Kopf der Nutheschlange ein Parkhaus errichtet wurde, in dem die Anwohner parken können. Damit das Ganze kein riesiger Parkplatz ist, sondern ein Park sein kann.“

„Ja, wir wohnen schön hier“, sage ich und blicke mich zufrieden um.

„Aber das Paradies ist gefährdet“, flüstert mir das Kängurukostüm verschwörerisch ins Ohr. „Die Wohnungsbaugesellschaft, die dieses Biotop einst errichten ließ, hat inzwischen bemerkt, dass man viel mehr Geld verdienen könnte, wenn man alles abreißen würde und ein paar hässliche kleine Hochhäuser errichtet, in denen dann viel mehr Mieter billig untergebracht werden können – natürlich billig nur im Sinne des Erbauers, die Mieten wären selbstverständlich höher als heute.“

„Aber das können die doch nicht durchsetzen, wer wollte denn einen Park abreißen und Plattenbauten darauf errichten“, sage ich zweifelnd.

„Nun, sie reißen auch nicht gleich alles ab. Sie haben erstmal ein Gutachten erstellen lassen, das dieses Parkhaus hier“, das Kängurukostüm deutet hinter sich, „als abrissreif darstellt und dann werden sie das Parkhaus abreißen lassen und es wird für viele Jahre eine riesige Baustelle geben und sie werden Teile des Parks betonieren und die Autos da parken lassen.“

„Aber dann will doch keiner mehr hier wohnen“, sage ich verblüfft.

„Genau das ist der Plan.“, flüstert das Kängurukostüm, „Genau das ist der Plan. Dann kann der Rest auch weg.“

„Genial, diese Kapitalisten“, sage ich bewundernd.

Das Kängurukostüm hält ein neues Schild hoch: „Wir machen kaputt, damit ihr kaputt geht. (Die Wohnungsbaugesellschaft und Potsdamer Klein-Politiker)“

„Ein richtig zugeordnetes Zitat“, sage ich. „Wie langweilig.“


Dieser Text wurde nicht von oder mit Hilfe einer KI verfasst.

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